Sozio-ökonomische, bevölkerungsbiologische und chronologische Parameter im rituellen Kontext des Bestattungswesens der Frühbronzezeit am Beispiel der Wieselburg-Kultur
Forschungsprojekt 9677 bei der ÖNB 2002-2004
Projektleitung: Ass.-Prof. Mag. Dr. Alexandra Krenn-Leeb, IUF Wien
Subventionsgeber: Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank ÖNB
Die Wieselburg-Kultur nimmt mit ihrer geographischen Lage im Großraum des Neusiedlersees eine neuralgische Position im Rahmen der frühbronzezeitlichen Kulturerscheinungen Mitteleuropas ein. Die in den letzten beiden Jahrzehnten sprunghaft vermehrten frühbronzezeitlichen Befunde der Unterwölbling-Kultur im Traisental, aber auch der Aunjetitz-Kultur im niederösterreichischen Weinviertel, in Mähren und der Südwestslowakei erbrachten für den mittleren Donauraum völlig neue Perspektiven für eine nähere Betrachtung sozialer, gesellschaftsstruktureller, demographischer, aber auch ökologischer und wirtschaftlicher Grundlagen jener Populationen. Mehrere Tausend neu entdeckte Gräber in diesen Gebieten repräsentieren für die Forschung ein ungeheures Potential, das es nun gilt, näher zu ergründen und aufzubereiten. Dies ist bislang allerdings nur beschränkt durchgeführt worden bzw. steckt aufgrund des ungeheuren Zeit-, Kosten- und Personalaufwandes inmitten der wissenschaftlichen Bearbeitung.
Ziel des Forschungsprojektes soll eine Gesamtaufnahme der bislang geborgenen Befund- und Fundkomplexe zu Gräbern der Wieselburg-Kultur in Niederösterreich und dem Burgenland darstellen. Die wissenschaftliche Auswertung umfasst sowohl die archäologische als auch die anthropologische Bearbeitung. Die archäozoologischen und archäometallurgischen Aspekte fließen in die archäologische Bewertung mit ein, da es sich um ergänzende Analysen handelt, wie etwa die archäozoologische Bestimmung von Speisebeigaben und Gerätschaften aus Tierknochen oder etwa die archäometallurgischen Analysen, die Details über Herkunft, Technologie und Verarbeitung der verwendeten Bunt- und Edelmetalle bekannt geben.
Die archäologische Auswertung nutzt weiters die anthropologischen Grunddaten wie Sterbealtersverteilung und Geschlechtsbestimmungen. Selbstverständlich geben aber auch pathologische Veränderungen am Skelettmaterial Aufschlüsse über Krankheits- und Verletzungsbilder der Wieselburger Population. Eine umfassende demographische Bewertung der Gesamtpopulation kann als ein Schwerpunkt dieses Forschungsvorhabens definiert werden.
Hauptaugenmerk wird allerdings die archäologische Bewertung des Befund- und Fundmaterials der Wieselburg-Kultur sein. Insgesamt sollen die sozio-ökonomischen, bevölkerungsbiologischen und chronologischen Parameter erfasst werden, die das Erscheinungsbild der Wieselburg-Kultur ausmachen. Basierend auf einer umfassenden Quellenlage wird das Bestattungswesen in seinem rituellen Kontext näher beleuchtet werden.
Hierbei können vielfältige Aussagen nicht nur über die gebräuchlichen Bestattungssitten dieser frühbronzezeitlichen Kulturerscheinung getroffen, sondern auch soziale und gesellschaftsstrukturelle Komponenten erfasst werden. Grabtiefen, Grabgrößen, eventuelle Grabbauten, mögliche Grabkennzeichnungen, Sargspuren, die Beigabensituation, das Ausmaß und die Position von Trachtbestandteilen, der Gesundheitszustand, Sterbealter, Position und Orientierung der beigesetzten Individuen, gezielter Grabraub, Position der Gräber innerhalb des Gräberfeldes, Beziehungen von Gräbern untereinander, verwandtschaftliche Merkmale an Individuen, technologische Fertigkeiten (ersichtlich an den Beigaben und Trachtbestandteilen), gesellschaftliche und soziale Stellung von Individuen etc. sind ein Teil jener Aspekte, die im Rahmen der archäologischen Auswertung näher beleuchtet werden und im Rahmen von Kartierungen, statistischen Erfassungen, Korrespondenzanalysen, Seriationen und Vergleichsstudien innerhalb eines Gräberfeldes, hierauf innerhalb sämtlicher Bestattungen der Wieselburg-Kultur sowie schließlich im Kontext zu den angrenzenden und auch darüber hinaus in Kontakt stehenden frühbronzezeitlichen Kulturerscheinungen veranschaulicht werden sollen.
Da Bestattungen immer auch starke individuelle Züge aufweisen, kann diese Aufzählung von möglichen Aspekten nur unvollständig sein. Besonderheiten sind zu erwarten und auch schon teilweise im Vorfeld bekannt, wie etwa die Tatsache von nachweisbaren größeren Grabhügeln in Jois oder aber der überaus qualitätsvolle Goldblechschmuck im Gräberfeld von Hainburg/Teichtal, die eindeutig importierten Objekte aus (süd)östlich benachbarten Kulturgruppen, die doch etwas divergierende Orientierung der Bestattungen sowie anthropologisch nachweisbare Abweichungen gegenüber angrenzenden frühbronzezeitlichen Populationen.
Was sich im Zuge dieser Aufarbeitungen bereits jetzt schmerzlich bemerkbar macht, ist ein völliges Fehlen an adäquaten Befundvorlagen der Wieselburg-Kultur, die die Brücke zu jenen (süd)osteuropäischen Kulturgruppen darstellt, von denen entscheidende Einflüsse in den mittleren Donauraum nachgewiesen werden können.
Entsprechend den groß angelegten Studien zur Unterwölblinger, Aunjetitzer und Maďarovce-Kultur sollen für eine adäquate Analyse der Bestattungssitten der Wieselburg-Kultur die beiden größten Gräberfelder – Hainburg/Teichtal und Mannersdorf am Leithagebirge/Reinthal-Süd – herangezogen werden. Sie umfassen insgesamt 418 Gräber.
Besonderes Augenmerk wird auf die relativ- und absolutchronologische Einordnung der Wieselburg-Kultur gelegt werden, da hier das Verhältnis zur älteren Leithaprodersdorf-Gruppe sowie vergleichbarer frühest frühbronzezeitlicher Kulturerscheinungen, wie etwa die Nitra-Gruppe in der Südwestslowakei, überprüft werden muss.
Nichtsdestoweniger ist das Ende der Wieselburg-Kultur näher einzugrenzen bzw. der Übergang in eine mittelbronzezeitliche Kulturausprägung näher zu definieren.
Obwohl die Wieselburg-Kultur eine nicht besonders langlebige Kulturerscheinung ist (BzA1b-Bz2b), tritt sie doch in einem der spannendsten Abschnitte der Bronzezeit auf, der durch den Wechsel von der Arsen- zur Zinnbronze gekennzeichnet wird. Gerade weil wir hier den Übergang zur ausgeprägten Bronzezeit fassen, spielen die archäometallurgischen Untersuchungen eine nicht unwesentliche Rolle.
Zusammenfassend kann betont werden, dass die Wieselburg-Kultur bislang ungerechtfertigterweise und durch ein Zusammentreffen verschiedenster Umstände einer umfassenden wissenschaftlichen Bearbeitung entzogen geblieben ist. Es ist somit ein Vakuum zwischen den angrenzenden, relativ gut fassbaren frühbronzezeitlichen Kulturerscheinungen entstanden, das es gilt, möglichst rasch zu beseitigen. Es erscheint fast unglaubwürdig, dass es im Rahmen der heutigen Forschung noch annähernd komplett unerfasste Kulturausprägungen gibt, die hingegen bereits seit über 100 Jahren bekannt sind!
Literaturauswahl
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- I. Bóna, Die mittlere Bronzezeit Ungarns und ihre südöstlichen Beziehungen. Arch. Hung. 50, 1975, 7-27, 231-249, 298, T. 274/75.
- W. Ehgartner, Die Schädel aus dem frühbronzezeitlichen Gräberfeld von Hainburg, NÖ. Mitt. Anthrop. Ges. Wien 58/59, 1959, 8-15, 81-82.
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- J.-W. Neugebauer, Die Urgeschichte von Mannersdorf am Leithagebirge und Umgebung. In: Katalog des Museums Mannersdorf am Leithagebirge und Umgebung. Teil 1, Ur- und Frühgeschichte. Mannersdorf am Leithagebirge 1979, 11-35.
- J.-W. Neugebauer, Die Rettungsgrabungen des Bundesdenkmalamtes 1980-1990 im Teichtal zu Hainburg, NÖ. Arch. Österreichs 1/1-2, 1990, 28-35.
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- M. Schultz, Krankheit und Tod im Kindesalter bei bronzezeitlichen Populationen. In: A. Lippert, M. Schultz, St. Shennan und M. Teschler-Nicola (Hrsg.), Mensch und Umwelt während des Neolithikums und der Frühbronzezeit in Mitteleuropa. Internationale Archäologie, Arbeitsgemeinschaft – Symposium – Tagung – Kongress 2, 2001, 287-305.
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